Antropologische Reflektion über Medikalisierung

Abstrakt

Schmerz, chronische Krankheiten und Sterben kann aus anderen Blickwinkeln untersucht werden, als dem des biomedizinischen Modells, den Perspektiven und Modellen der Psychologie, der Palliativ- und Sterbebegleitung oder der Schmerztherapie.

MEDIKALISIERUNG UND SCHMERZ

s ist wichtig, sich mit der Medikalisierung zu befassen. Obwohl chronische Schmerzen und Behandlungen am Lebensende Medikamente erfordern, werden Patienten manchmal immer noch so therapiert als befänden sie sich in der Behandlungsphase, selbst wenn ihr Zustand eine Art von Medikamenten erfordert, die sich auf die Linderung von Schmerzen und einen Beitrag zu ihrer Würde am Lebensende konzentriert, nicht auf die Heilung. Doch zu akzeptieren, dass die Krankheit fortgeschritten und die Lebensprognose nicht günstig ist, bedeutet, Leben, Tod und natürlich die Wahrscheinlichkeit des Sterbens ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Der Tod, obwohl er ein alltägliches Phänomen ist, ist immer schockierend. Wie Jankelévitch (2009) feststellt, ruhen Tod und Schmerz in der dritten Person immer auf der Hoffnung und dem Abstrakten, es ist ein Wissen; während der Tod in der zweiten Person eine Auswirkung, eine Trauer begleitet von einer Reihe von Ereignissen, die nicht immer auf die beste Art und Weise ausgeführt werden, mit sich bringt. Denn tief im Inneren ahnt jeder, dass nach der zweiten Person nur noch eine übrig bleibt: die erste Person. In diesem Moment wird die Idee des eigenen Todes mors ipsa präsent; das Binom, Tod und Schmerz in der ersten Person repräsentiert eine konzeptualisierbare, aber nicht erkennbare Erfahrung voller Geheimnisse, Symbole und Erzählungen, die von der Lebensgeschichte und Kultur jedes Einzelnen abhängen.

Was die Medikalisierung betrifft, so tauchte dieser Begriff erstmals in der soziologischen Literatur auf und konzentrierte sich auf Differenzen. Dann ging sie dazu über, andere menschliche Zustände zu erklären und zu untersuchen und dehnte sich schließlich aus, bis sie kaum noch in Frage gestellt oder reaktiv in Frage gestellt wurde, wobei ihre eigentlichen Wurzeln verborgen blieben. Ebenso die sozialen Folgen, einschließlich der Pathologisierung von Verhaltensunterschieden und der Menschlichkeit an sich, sowie die Individualisierung von Problemen, was zu einer Simplifizierung sozialer und politischer Dimensionen im Leben der Menschen führte. (Conrad und Bergey, 2015).

Nachdenken über Medikalisierung erfordert zu verstehen dass es für die Soziologie wichtig ist, die Entstehung medizinischer Kategorien zu analysieren und zu beachten, während es für die Anthropologie wesentlich sein wird, sich auf die institutionelle und epistemische Dimension zu konzentrieren, die heute die Biomedizin auch als Autorität vom kulturellen Standpunkt aus besitzt. Konzeptuell ist es wichtig klarzustellen, dass wir – wenn wir uns auf Medikalisierung beziehen – von Prozessen sprechen, in denen nicht-medizinische Probleme definiert und behandelt werden als ob sie welche wären, und die normalerweise irgendeine Art von medizinischer Behandlung rechtfertigen (Conrad und Bergey, 2015).

Anspach (2001) beschreibt, wie Medizintechnik das Wachstum der Medikalisierung begleitet, und dies wird in der Regel von Pharmaunternehmen gefördert und unterstützt. Neuere Studien, die die pharmazeutische Industrie und die damit verbundene Wirtschaftspolitik analysieren, erwähnen, dass die Medikalisierung seit den 1960er Jahren ein wichtiges Thema war, und die ersten akademischen Kritiker dieses Phänomens waren Foucault und Szasz (Sismondo, 2015).

Michel Foucault (2008), entwickelte die Idee des klassischen Epistems, indem er drei große Bereiche anerkannte, darunter die Naturgeschichte die als Aufgabe hat, “die Daten der Beobachtung in einen geordneten und methodischen Raum zu führen, wobei sie als Nominalisierung des Sichtbaren, die taxonomische Disposition der Lebewesen, die für eine angemessene Nomenklatur verwendet wird, definiert wird” (S.157).

Diese Definition ging auch mit einer Normalisierung der Individuen und natürlich der Bevölkerungen einher. Die Medizin spielte und spielt noch immer eine grundlegende Rolle bei der Bildung dieser Modalität, indem sie durch die Konzepte von Normalität und Abnormalität Macht ausübt. Auf diese Weise erfindet die Medizin eine Gesellschaft die auf der Grundlage der Norm und nicht immer im Einklang mit den Gesetzen funktioniert. Die Medikalisierung bezieht sich auf einen Prozess, der durch eine politische Funktion in der Medizin und durch eine “unbestimmte und unbegrenzte Ausweitung der Intervention des medizinischen Wissens” gekennzeichnet ist (Foucault, 1999, S.48-53).In den 1940-1950er Jahren wurde die Gesundheit zum Gegenstand politischer Machtkämpfe und war ein wichtiger Teil der makroökonomischen Sphäre, die auf die Tatsache anspielte, dass Gesundheit eine Politik der Einkommensumverteilung erfordert. Angesichts dessen ergaben sich zwei Konsequenzen: zum einen das medizinische Risiko (die Bio-Geschichte) und zum anderen die unbestimmte Medikalisierung. Mit anderen Worten, die Medizin wurde den Menschen auf autoritäre Weise aufgezwungen, und ihre Macht erstreckt sich auf das Leben im Allgemeinen und nicht nur auf Krankheiten (Foucault, 1999).

Einige Feministinnen und Wissenschaftlerinnen nehmen Foucaults Arbeit auf, um geschlechtsspezifische Kategorien der psychischen Gesundheit wie Angst, Depression und Hysterie zu debattieren. Und Ereignisse im Zusammenhang mit dem Leben von Frauen, z.B. Wechseljahre oder Geburt – und auf welche Weise die Medikalisierung diese definiert und in Angriff nimmt – zu untersuchen. Spätere Analysen erwähnen, dass die Medikalisierung den Weg für Pharmazeutika öffnete. Dies wird plausibel wenn man betrachtet wie die beschriebenen Kategorien in der Regel mit der Entdeckung neuer Medikamente z.B. Antidepressiva, in Verbindung gebracht werden. Diese Kategorie wird nach den 1980er Jahren wichtig. Früher wurde es mit älteren Menschen in Verbindung gebracht, aber mit dem Aufkommen von Eli Lillys Prozac im Jahr 1987 stieg die Zahl der Menschen bei denen eine Depression diagnostiziert wurde. Heute sagt die Weltgesundheitsorganisation voraus, dass Menschen in zwanzig Jahren viel stärker von Depressionen betroffen sein werden als von jedem anderen Gesundheitsproblem (Healy, Williams und Whitaker zitiert in Sismondo, 2015).

ALTERNATIVEN AM ENDE DES LEBENS

Eine Alternative in Bezug auf das Thema Schmerz und Tod ist aus anthropologischer Sicht diese, dass verschiedene Arten von Schmerzen berücksichtigt werden die nach ihrem Ursprung klassifiziert werden indem man die Faktoren der Wahrnehmung und der Reaktion berücksichtigt. Ebenso das Wissen dass es möglich ist, über Tod und Sterben nachzudenken, von Bedeutungen die der Erfahrung zugeschrieben werden bis hin zu verbalen und nonverbalen Manifestationen (Anthropologie der Gesten). Aus dieser Vision heraus wird sich die Medizin um den Patienten als eine Person kümmern, die eine untrennbare psychosomatische und soziokulturelle Einheit aufweist. Wo das Sterben aus der Erfahrung und den Bedeutungen – aus dem subjektiven Leiden – und nicht ausschließlich aus der Krankheit als objektive Realität gesehen wird (Campos-Navarro, 2016).

Bevor Alternativen vorgeschlagen werden, ist es wichtig, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitswesens sich in der Verantwortung sehen mit gleichem Eifer sowohl die somato-psychische als auch die soziokulturelle Dimension zu berücksichtigen, in dem man Berufspraxis und Patienten vor einer unausgewogenen Sichtweise schützt bei der sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Biomedizin richtet, bei der vor allem die Krankheit – wie eine Verletzung oder ein organischen Schaden – behandelt wird und es weniger um den Patienten geht, wobei das eigentliche Leiden der kranken Person gar nicht in Betracht gezogen wird.

Dieser Prozess kann leicht mit der späteren Verdinglichung und Entpersonalisierung der Patienten assoziiert werden, die auf eine Verletzung und (in diesem Beispiel) auf “Fälle”, die auf ihren Tod warten, reduziert werden.

Nach diesem kurzen Einblick in die medizinischen Anthropologie wird klar, dass es wichtig sein wird, die Rolle der Kommunikation hervorzuheben, und mehr noch, die Fähigkeit, dem Patienten zuzuhören der sich in der letzten Phase seines Lebens befindet, in der die Bedeutung von Tod und Sterben an Stärke gewinnt. Es wird notwendig sein, die Weltanschauung des Patienten/Patientin zu kennen und zu respektieren, um die Vorstellungen zu verstehen, die der Patient selbst über das Ende seines Lebens hat, ohne in vorher festgelegte Agenden zu verfallen. Vielerorts wird dem Leidenden aus psychologischer und manchmal auch aus religiöser Sicht eine bestimmte Art von Interventionen auferlegt, die nicht immer mit der Weltanschauung und den Darstellungen der Patienten und der sie begleitenden Personen übereinstimmen (Campos-Navarro, 2016).

Nun werden vier notwendige Facetten aus anthropologischer Sicht (basierend auf den Arbeiten von José Luis Díaz) aufgezeigt und auf das medizinische Wissen angewandt und in diesem Fall am Beispiel von Patienten am Ende ihres Lebens dargestellt. Die erste setzt voraus, dass man die Krankheit und die reale Situation des Patienten genau kennt und nicht durch Diskurse und unnötige Medikamente Hoffnung gibt. Die Akzeptanz der Prognose basiert auf der Erkennung der Krankheit und des Zustandes, in dem sich die Person befindet. Die zweite Facette betrifft das Mitgefühl oder das mitfühlende Verständnis für die Erfahrung des Patienten, wobei man die Erkrankung behandelt, und akzeptiert wird, dass der Patient ein Mensch ist der sich in einer schwierigen Zeit seines Lebens, im Angesicht des Todes, befindet. Die dritte Facette erfordert eine auf Empathie (verbal und nonverbal) basierende Kommunikation zwischen dem Patienten, dem Arzt, dem Gesundheitsteam und den wichtigen Begleitpersonen des Patienten. Die Mitteilung einer tödlichen Diagnose und der damit verbundenen Behandlungen ist nicht einfach, aber Depersonalisierung und Verdinglichung sind auch nicht die beste Option. Die letzte Facette umfasst das Wissen, den Respekt und die Toleranz gegenüber der Weltsicht des Patienten über Leben und Tod, die Bedeutung des Todes, in Verbindung mit dem sozialen und kulturellen Kontext des Patienten und den bedeutenden Personen, die ihn oder sie begleiten (Campos-Navarro, 2016).

Nach der Analyse anderer Perspektiven außerhalb der Medikalisierung von Gesundheit bei Schmerzen, chronischen Krankheiten und sterbenden Patienten können wir behaupten, dass Gesundheit, Krankheit und Tod ein Vorwissen implizieren, und dies wird kulturell und sozial innerhalb einer Gemeinschaft gelebt, die sich in einer konstanten Dynamik ihres sozialen, historischen und kulturellen Kontextes artikuliert. Dennoch befinden sich diese Konzepte in einer ständigen Dynamik und es ist wichtig, ihren historischen Rahmen und die Weltanschauung aus der sie geboren und entwickelt wurden, zu erkunden. Deshalb ist es wichtig – bevor man sich mit Trauer (ein weiteres interessantes Thema) beschäftigt – über die Bedeutung nachzudenken die dem Tod und dem Sterben zugeschrieben wird, ohne dabei zu vergessen dass Nachdenken über den Tod eine Reflektion über das Leben impliziert. Eine genauere Untersuchung dieser Analyse zwingt uns, diese Phänomene nicht nur aus Sicht der Anthropologie, sondern auch aus der Philosophie, der Periphilosophie, der Geschichte, der Doxologie, der Soziologie und vor allem aus dem Menschen heraus zu begreifen. Daher ist es notwendig, Erkenntnisse aus diesen Disziplinen beizutragen um ein Wissen zu dekonstruieren und zu rekonstruieren, das den Bedürfnissen der Patienten entspricht.

Diese Arbeit versucht nicht, erschöpfend oder schlüssig zu sein; es gibt noch viel zu diesem Thema zu erforschen und zu entwickeln.

Wenn diese kleine exponierte Reflektion als Ausgangspunkt für spätere Untersuchungen dient, wenn die Aufmerksamkeit des Lesers bis zu diesem Punkt gereicht hat und Debatten, konstruktive Kritik und Dialoge zwischen den Disziplinen begünstigt, um ein Wissen zu erzeugen, welches zur menschlichen Entwicklung beiträgt, dann ist das Ziel erreicht.


REFERENZEN

  • Anspach, R. (2001) Gender and Health Care. Medicalization and Medical Technology. International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences.
  • Campos-Navarro, R. (2015) Antropología médica e interculturalidad. Capítulo 8 Antropología médica aplicada.
  • Universidad Nacional Autónoma de México. Facultad de Medicina. México, McGraw Hill.
  • Conrad, P., Bergey, M. (2015) Medicalization: Sociological and Anthropological Perspectives. Segunda Edición. International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences.
  • Foucault, M. (1999) Obras esenciales. II Estrategias de poder. Barcelona, Paidós.
  • Foucault, M. (2008) Las palabras y las cosas. Una arqueología de las ciencias humanas. Buenos Aires, Siglo XXI.
  • Jankélévitch, V. (2009) La Mort. (La muerte). Traducción por Manuel Arranz Lázaro. Guada Impresores: Valencia España.
  • Norwood, F. (2015) End of Life Choices. Future Directions and Alternative Choices at the End of Life. International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences.
  • Sismondo, S. (2015) Pharmaceutical Industry: Political Economies of Drugs and Knowledge. Illness: From Medicalization to Pharmaceuticalization. International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences.

Artikel zitieren:

Teilen:
Share on twitter
Share on linkedin
Share on telegram
Share on whatsapp
Share on facebook
Share on email
Share on print
Share on twitter
Share on linkedin
Share on telegram
Share on whatsapp
Share on facebook
Share on email
Share on print

Mit Ihrer Spende tragen Sie zum Schutz der Menschenwürde bei und unterstützen unser Team bei der Durchführung von Aktionen in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte, besondere Bevölkerungsgruppen, Drogenpolitik, Ethnobotanik und neue Technologien.

Wir bringen Ihre Stimme zu wichtigen Instanzen, bereiten strategische Sitzungen, Dokumente mit zuverlässigen Informationen und öffentliche Initiativen vor, um die Ziele unserer Programme zu fördern.

Die Knowmad Institut gemeinnützige UG (haftungsbeschränkt) ist eine gemeinnützige Organisation zur Förderung von Wissenschaft und Forschung. Sie ist in Deutschland unter der Handelsregisternummer HRB 17148 FF in Frankfurt (Oder) eingetragen.

Sektionen